Sinn, Sinne, Sinnlichkeit in Mailand

Hamburg | Ausgabe 29 | Frühling 2023 | Text: Barbara Jahn

Noch nie standen Haptik, Materialauthentizität und Vernunft so sehr im Mittelpunkt wie dieses Mal: Es waren Gefühle, Verantwortung, Intelligenz, Akkuratesse und der Fokus für die individuelle Wahrnehmung, die bei der diesjährigen Edition des Mailänder Möbelsalons das Kommando übernommen haben.

Sofa Vespucci & Sitzmöbel Pod von Paola Lenti. Design: Francesco Rota & CRS www.paolalenti.it Foto: © Sergio Chimenti

Das jährliche, international bunte Treiben in Mailand ist wieder da: Zurückgekehrt an seinen traditionellen Stammplatz im Kalendermonat April und in alter, neuer Frische ließ der Salone Internazionale del Mobile die ganze Welt in die Hauptstadt des Designs pilgern. In einem großartigen Zusammenspiel zwischen Messebesuch und Showroom-Bummel offenbarten sich dabei die neuesten Trends in all ihren Farben, Formen und Fantasien.

Armlehnstuhl Dezza von Poltrona Frau. Design: Giò Ponti www.poltronafrau.com Foto: © Poltrona Frau

Schultz Collection von Knoll International. Design: Richard Schultz www.knoll.com Foto: © Federico Cedrone

Zwischen Edition und Re-Edition

Soll man oder soll man nicht? Das war lange eine quälende Frage für viele Hersteller, die sich lange Zeit gelassen haben, um auf den Zug der Neuauflagen aufzuspringen. Das Wiederverwerten von eigenen Archivprodukten wurde lange von einigen Seiten als Ideenlosigkeit interpretiert. Doch mit einer klug ausbalancierten Mischung aus Alt und Neu kann eine komplett neue Anmutung einer Kollektion entstehen, indem sich der Kontext verändert und die Beziehung der einzelnen Möbel zueinander neue Möglichkeiten für das Interieur eröffnet. Die Re-Designs erkennt man nicht nur an den typischen Schwüngen und Formen der einzelnen Möbelstücke, sondern auch an den niedrigen Sitzhöhen und an den außergewöhnlichen Bezugsstoffen, die einen zeitgenössischen Look erzeugen und gleichzeitig die besondere Haptik jener Dekaden in Erinnerung rufen. Insgesamt versteht sich der Trend als Bereicherung und Fortsetzung von gestalterischen Erfolgsgeschichten, die mit zeitgenössischen Entwürfen die Zwanziger des neuen Jahrtausends prägen werden.

Sofa Maaru von Walter Knoll. Design: EOOS www.walterknoll.de Foto: © Walter Knoll

Zurück zur Natur

Man könnte meinen, Holz sei das neue Plastik: Wo immer man hinschaut, begegnet einem etwas Gebogenes, Gemasertes, Gehobeltes und Geschliffenes – auch da, wo man es vielleicht gar nicht erwarten würde. Der nachwachsende Rohstoff selbst ist zwar jetzt kein neuer Trend, jedoch der Umstand, dass sich die Branche nicht mehr auf zwei Holzarten – nämlich Nuss und Eiche – eingeschworen hat, sondern das Tor für Esche, Birke, Buche und Co. weit aufmacht. Diese Entwicklung drängt den Spritzguss und das Strangpressen ein wenig in den Hintergrund, wobei man auch hier ernsthafte Tendenzen zum Recyceln und Upcyceln bemerken kann und lobend erwähnen sollte. Doch Holz bleibt weiterhin auf dem Vormarsch und wird für alle Bereiche fit gemacht, hat es doch die Herzen aller erreicht und schon lange seine Vorzüge unter Beweis gestellt. Erobert hat aber auch Naturstein die Möbelszene, vor allem der Marmor, der in den unterschiedlichsten Versionen und an den ungewöhnlichsten Orten in Erscheinung tritt.

Raumduftserie EveryHuman von Moooi. Design: der Kunde selbst www.moooi.com Foto: © Moooi

Chaiselongue Tuscany von Molteni & C. Design: Naoto Fukasawa www.molteni.it Foto: © Molteni&C

Ganz oder gar nicht

Immer mehr Unternehmen setzen auf holistische Designkonzepte und bilden ganze Wohnwelten ab. Hatte ein Produzent etwa früher nur Badmöbel produziert, so ergänzt er heute das Sortiment mit eigenen Betten, begehbaren Schrankräumen und Kleinmöbeln. Auch die Polstermöbel- und Küchenindustrie denkt um und damit gleich an das passende Umfeld, das mit Accessoires und themenverwandtem Mobiliar zu einem großen Ganzen verschmelzen soll. Indoormöbel-Hersteller gehen nach draußen und umgekehrt – sie lassen die Räume fließen. Andere kreieren eigene Raumduftlinien, die auch komplett individualisierbar sind. Das Engagement ist entsprechend groß, die Menschen mit Vielfalt und Wahlfreiheit innerhalb einer gesamtheitlich durchkomponierten Kollektion zu gewinnen. Schließlich gehört eine große Portion Emotion und Affinität dazu, wenn man eine Einrichtungswelt zu seiner Lebensbühne macht.

Leuchtenserie Luna von Occhio. Design: Axel Meise www.occhio.com Foto: © Elishua Bachoa

Outdoorleuchte Scoora von Dedon. Design: Hoffmann Kahleyss Design www.dedon.de Foto: © Dedon

Frisch, flexibel, frei

Ungebrochen ist auch jener Trend, der vom Drang bestimmt ist, möglichst viel Zeit an der frischen Luft zu verbringen. Während die einen ihre Modelle für Terrasse, Pool-Zone und Garten weiter verfeinern, haben die anderen mit einer Fülle von Outdoorküchen, Badmöbeln und Beleuchtung nachgezogen. Insbesondere letztere wurde massiv und intensiv ausgebaut, wie man auf der diesjährigen Euroluce sehen konnte: Neben neu definierten, wetterfesten Materialien ist es vor allem die neu gewonnene Mobilität, die den Aufenthalt im Freien noch spontaner gestalten lässt, wobei man sich auch auf immer bessere Akku-Leistungen verlassen kann. Nach den letzten, gedämpften Jahren kommt die Leichtigkeit endlich wieder zurück. Auch für den Mailänder Salone beginnt mit seiner 61. Ausgabe eine neue Zeitrechnung wieder bei 1, in der man wieder voller Zuversicht, vor allem aber mit zurückgewonnener Lebensfreude in die Zukunft blickt.

Waschbecken Anima Liquida & Konsole Anima Liquida Living von Antonio Lupi. Design: Giorgio Rava www.antoniolupi.it Foto: © Antonio Lupi